
Ohne Software keine Jobs: VW-Betriebsratschefin Daniela Cavallo und Konzern-CEO Oliver Blume
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Beteiligung an Rivian VW-Boss Blume leitet das Ende der Software-Tochter Cariad ein
Mitten in der Krise feilt CEO Oliver Blume an seiner Softwarestrategie. Mit der Beteiligung am US-Hersteller Rivian leitet er die Abwicklung der Sorgentochter Cariad ein. Sie gilt als „die größte Bombe, die dieser Konzern je getragen hat“.
Von
Michael Freitag
Daniela Cavallo (49) hat aktuell eigentlich keine Zeit für Softwareprobleme. Die Betriebsratschefin der Volkswagen AG kämpft um Jobs und Geld. Der Vorstand um CEO Oliver Blume (56) will in Deutschland Zehntausende Stellen streichen, drei Werke schließen, dazu noch die Gehälter kürzen.
Der gleiche Vorstand aber will nun – mitten in der schwersten Unternehmenskrise seit dem Dieselskandal – 5 Milliarden Dollar in das amerikanische Auto-Start-up Rivian stecken, um sich dessen Software zu sichern. Die nächste Gigawette, während die Belegschaft zu Hause sparen muss?
Die Software, die eigentlich von der konzerneigenen Tochter Cariad kommen sollte, ist eines der zentralen Probleme von Volkswagen, das weiß auch Cavallo. Und für die 652.000 Beschäftigten des Konzerns auf Dauer sogar gefährlicher als die aktuellen Sparrunden. Aber taugt der Risikodeal mit Rivian als Lösung? Sie werde sich, das hat Cavallo intern klargemacht, die Softwarepartnerschaft genau erklären lassen. Und das, Schritt für Schritt, bei jedem der in Etappen geplanten Milliardentransfers aufs Neue.
Konzernchef Oliver Blume kennt die Risiken eines Einstiegs. Nur: Er braucht Rivian. Die Amerikaner haben eine in der Szene gerühmte Softwarearchitektur in ihren Vans und Pick-ups. Die Cariad dagegen, so sagte es jemand aus der Konzernspitze kürzlich sehr überlegt, „ist die größte Bombe, die dieser Konzern je getragen hat“.
Mithilfe von Rivian will Blume diesen Sprengkörper jetzt entschärfen. Gelingt ihm das nicht, gefährdet er nicht nur seinen Job. Sondern auch den zweitgrößten Autobauer der Welt.
Blumes Vorgänger Herbert Diess (66) wollte aus Volkswagen einen Softwarekonzern machen, das Unternehmen so auf Augenhöhe mit dem neuen Vorbild Tesla bringen. Diess konstruierte die Cariad, 10.000 Softwareexperten sollten dort die Algorithmen für jedes Automobil des Konzerns programmieren. Doch sie scheiterten so massiv, dass es Diess im Sommer 2022 den Job kostete.
Von Tag eins an war Blume mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Gleich nach dem Start als CEO hatte er sich die Hoheit über die Softwaretochter gegriffen und den Aufsichtsratsvorsitz übernommen. Er hat seither die Organisation umstrukturiert und Milliarden in externe Hilfe investiert. Mit dem Rivian-Einstieg will er der Weg nun frei machen für den nächsten, zentralen Schritt seiner Softwarestrategie: Blume läutet das Ende der Cariad ein.
Das Aus für den Software-Guru
Gestartet hatte er das Projekt Rivian schon Ende Juni. Volkswagen wolle bis Ende 2026 rund 5 Milliarden Dollar in den amerikanischen Elektroneuling investieren, kündigte er gemeinsam mit Rivian-CEO Robert „RJ“ Scaringe (41) an. Wenn am heutigen Dienstag der Aufsichtsrat zustimmt, ist die erste Milliarde fix. Die Deutschen hielten dann etwa 10 Prozent der Anteile an der US-Firma. In Etappen würden 2025 und 2026 die restlichen 4 Milliarden Dollar fließen. Für 2 Milliarden Dollar davon sollen zusätzliche Aktien gekauft werden, der Rest würde für den Aufbau eines gemeinsamen Joint Ventures und die Lizenz verwendet, um die Rivian-Software zu nutzen.
Hinter den Kulissen wird bereits seit der Ankündigung des Deals geübt. Teile der Rivian-Software werden im Audi Q6 e-tron getestet. Es sind heikle Versuche in sogenannten „Safe Rooms“, nichts darf nach draußen dringen. Sobald es richtig losgeht, wird das neue Joint Venture die Entwicklung des sogenannten Software Defined Vehicle (SDV) für Volkswagen übernehmen. Gemeint ist: Die Technologie des Autos wird an die Software angepasst – und nicht mehr umgekehrt. Das Joint Venture baut damit jene lang ersehnte Supersoftware, die – gestartet in der Cariad unter dem Kürzel E3 2.0 – auch das autonome Fahren ermöglichen soll.
Anders formuliert: Rivian würde der Cariad ihre zentrale Zukunftsfunktion wegnehmen. Die 200 IT-Experten, die bei Cariad bislang an der neuen Software arbeiten, sollen in das neue Joint Venture wechseln. Geführt werden soll die Gesellschaft, falls alles durchgeht, nach Informationen des manager magazins von einem Duo: Carsten Helbing (50), bei Volkswagen aktuell Nummer zwei der Konzernentwicklung und Chef des AI Labs für künstliche Intelligenz. Rivian bringt seinen wichtigsten Softwareentwickler ein: Wassym Bensaid.
Die Zukunft des aktuell führenden IT-Experten der Cariad gilt als maximal ungewiss. Sanjay Lal (49) war erst vor einem Jahr angeworben worden: von Rivian.
Zentrale Einheiten zu Rivian
Die Entwicklerteams im Gemeinschaftsunternehmen sollen vor allem eins schaffen: die Zonenarchitektur von Rivian, die ähnlich aufgebaut ist wie die als führend geltende Tesla-Elektronik, für die nächste Generation der Volkswagen-Modelle nutzbar zu machen. Zuerst eingesetzt werden soll sie in dem neuen, für den US-Markt geplanten Pick-up Scout und in einem neuen Porsche-SUV, das intern noch unter dem Kürzel K1 läuft. Beide Fahrzeuge sollen, wenn es perfekt läuft, bereits ab 2027 verkauft werden.
Blumes Erwartungen aber reichen weiter. Gemeinsam mit Peter Bosch (50), den er im Juni 2023 als Cariad-Chef eingesetzt hatte, hat Blume die Tochter zwar gerade erst neu aufgestellt und vier zentrale Einheiten für autonomes Fahren, Infotainment, Cloud und Backend gebildet. Aber wenn das Joint Venture gut funktioniert, dürfte es auch diese Bereiche nach und nach übernehmen.
Wie schnell? Das hänge vom technischen Fortschritt der Allianz mit Rivian ab, heißt es im Unternehmen. Aber auch davon, was die Neuordnung bei der Cariad auslöst und wie auch der Betriebsrat dort mitspielt.
Die Zuständigkeit für die aktuellen Systeme gibt die Cariad ohnehin ab. Die Marke VW übernimmt die Führung der Architektur E3 1.1 für die Elektroplattform MEB, sie wird für Fahrzeuge wie den VW ID.3 und den Cupra Born genutzt. Audi wird die von Porsche und Audi genutzte E3 1.2 lenken. Hier gibt es noch immer Verzögerungen, Probleme bei Zukunftsmodellen, in denen die Cariad-Software eingesetzt wird. Das Notfallprogramm wird noch Jahre laufen.
Fest steht: Nach gut fünf Jahren, in denen wenig gelungen ist, wird die Cariad nach und nach verkleinert. Ein Teil der Mitarbeiter wird zurück zu den Marken gehen und seine Arbeit dort fortsetzen; sie haben Verträge mit Rückkehrrecht. Allein bei Audi werde mit mehr als 500 Cariad-Frauen und Männern gerechnet, die man womöglich wieder aufnehmen müsse, heißt es im Unternehmen. Andere Beschäftigte verlassen die Cariad mit Abfindung, ein Programm läuft; aus rund 6500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind bereits 5500 geworden. Und es wird zügig weitergehen.
Kein Preis zu hoch
Die Cariad hatte in all den Jahren nie eine Chance. Sie musste die Arbeit an bereits verspäteten Softwarearchitekturen etwa für VW Golf und Passat übernehmen, sie bekam so umfangreiche Auftragslisten insbesondere von Audi und Porsche, dass sie immer hinter den Plänen blieb. Der Start des VW ID.3 als erstem Auto auf der MEB-Plattform verzögerte sich um knapp ein Jahr, der Porsche Macan geriet drei Jahre zu spät.
Es ist eine Bilanz des Schreckens. Schon Ende 2021 hatte McKinsey-Leaderin Ruth Heuss in einem Gutachten einen niedrig zweistelligen Milliardenschaden kalkuliert – nur durch die wahrscheinlichen Verzögerungen bei der Zukunftsarchitektur 2.0. Der wahre Schaden könnte sich irgendwann in Richtung der der 30-Milliarden-Euro-Marke des Dieselskandals bewegen. Allein in den ersten drei Quartalen häufte sich das operative Minus der Cariad wieder auf 2,1 Milliarden Euro (siehe Grafik).
Um aus der Misere herauszukommen, investiert Blume Milliarden in neue Partnerschaften. Fast kein Preis ist ihm zu hoch, um das Softwareproblem zu lösen.
Als Volkswagen-Boss hat er, kaum im Amt, die noch unter Diess angestoßene Beteiligung am chinesischen Softwareunternehmen Horizon Robotics entschieden. Kosten: 2,4 Milliarden Euro.
In China beteiligt sich VW für 700 Millionen Dollar mit 5 Prozent am chinesischen Elektroneuling und Softwarespezialisten XPeng. Jetzt entwickeln beide Unternehmen gemeinsam Autos – unter chinesischer Führung und ähnlich wie bei Rivian mit der Ambition, auch VW-Modelle in Europa mit Software zu beliefern.
Blume hat die Kooperation mit dem auf autonomes Fahren fokussierten Start-up Argo AI beendet – und rund 2 Milliarden Euro abgeschrieben. Und in seiner Parallelfunktion als Porsche-CEO entschied er sich für die Beteiligung am amerikanischen Software-Start-up Applied Intuition, um sich von den Profis aus dem Silicon Valley helfen zu lassen. Auch der Aufbau einer alternativen Software stand zur Debatte.
Auch die nächste Entscheidung über das autonome Fahren wird teuer. Die Cariad arbeitet vor allem mit Bosch zusammen, Porsche und Audi lassen sich vom israelischen Softwareunternehmen Mobileye beliefern. Beides ist noch unter Diess angelaufen, beides weiterzubetreiben, wird irgendwann zu teuer.
Bosch sei hinter den Zeitplänen zurück, heißt es im Unternehmen. Aber die Stuttgarter hätten das Recht, die entwickelte Software auch an Dritte zu vermarkten. Bei einem Ausstieg kalkuliere man bei Volkswagen Zahlungen in Höhe von fast zwei Milliarden Euro. Der Vertrag sei gut verhandelt von den Bosch-Leuten, staunt ein Beteiligter.
Der Ausstieg bei Mobileye würde allerdings ähnlich kostspielig, vor allem fürchten Beteiligte neue Verzögerungen. Aber die Tendenz gehe in Richtung Bosch. Derzeit werde das System des deutschen Partners „intensivst geprüft, das werden wir in den nächsten Wochen noch fortsetzen“, kommentiert einer aus der Volkswagen-Spitze. Möglicherweise geht es aber noch eine Weile mit beiden Partnern weiter, zumal ein vollautonomes Shuttle-Projekt mit Mobileye bei VW Nutzfahrzeuge wohl weiterlaufen würde.
Aber auch hier gilt: Blume will aufräumen.
Die geplante Allianz mit Rivian soll jetzt eine Art Befreiungsschlag bringen – auch wenn die Risiken hoch sind. Abgesehen von technischen und organisatorischen Unwägbarkeiten ist da etwa die Rolle von Jeff Bezos (60). Mit 16 Prozent hält dessen Amazon-Konzern aktuell knapp 16 Prozent der Rivian-Anteile; Rivian liefert dem Onlinehändler elektrische Lieferfahrzeuge. Zwar hat Bezos klargemacht, kein weiteres Kapital in das Unternehmen schießen zu wollen – aber auch nach einem Volkswagen-Deal bleibt er zunächst größter Anteilseigner und könnte sich eventuell gegen neue VW-Pläne stellen.
Oder die Finanzen. Der Pakt mit Rivian könnte schnell teurer werden als die kalkulierten 5 Milliarden Dollar – denn die Firma verbrennt Geld schneller, als man zuschauen kann. 108.000 Dollar operativen Verlust pro verkauftes Auto hat das Unternehmen nach drei Quartalen 2024 ausgewiesen, dazu gut 8 Milliarden Dollar an Schulden und Zahlungsverpflichtungen. Irgendwann wäre womöglich eine Komplettübernahme notwendig, wenn es so weitergeht.
Immerhin: Die für Volkswagen zentralen Leute hat man sich im Joint Venture schon einmal gesichert.